Schwerpunkt
Naturheilpraxis 05/2021

Der Pischinger-Raum – System der Grundregulation

"Keine Behandlungsmethode hat seit ihrem Entstehen in grauer Vorzeit bis in unsere Tage derartig begeisterte Freunde wie erbitterte Feinde gehabt, wie die blutentziehende Behandlungsweise, das Schröpfen und vor allem das Aderlassen, die venaesectio." (1)

Ein Beitrag von Gudrun Zeuge-Germann und Peter Germann
Lesezeit: ca. 6 Minuten

Das von dem Wiener Arzt Prof. Alfred Pischinger in den Fünfzigerjahren beschriebene durchlässige Bindegewebe ist die vorrangige Einheit sämtlicher Stoffwechselgeschehen. Dieser Bereich der Extrazellulären Matrix (EZM) wird seitdem nach ihm als Pischinger-Raum bezeichnet.

Dieses Grundsystem ist die Basis der Regulation aller Körperfunktionen, aber auch der Entstehungsfaktor für funktionelle und pathologische Geschehen. Die Fähigkeit der Selbstheilung ist hier ebenfalls mit angesiedelt.

Vom Humoralen durch die EZM in die Zelle

Dieses Dreiersystem ist aufeinander angewiesen. Das Fließsystem sorgt für den An- und Abtransport, die Bindegewebematrix stellt die Transitstrecke dar und die Zelle gewinnt aus dem erbrachten Angebot Energie. Dabei fallen Abfallstoffe an, die auf dem gleichen Weg wieder zurück gehen. Es handelt sich um eine dynamische Reziprozität, ein Prinzip der Gegenseitigkeit der einzelnen Systeme. Dies zu erkennen ist unablässig für einen diagnostischen und therapeutischen naturheilkundlichen Aufbau. Wir müssen weg vom rein reduktionistischen Paradigma, welches in der Wissenschaft immer weiter vorangetrieben wurde, wieder hin zur Systembiologie und Systemmedizin.

„Die Ansicht, dass die Zelle ohne das sie umgebende Milieu eine Abstraktion sei, wurde klar und deutlich von einem der Pioniere auf dem Gebiet der EZM, Alfred Pischinger, verfochten und wird heute in der etablierten medizinischen Literatur unterstützt.“ (2)

Die Fähigkeit der Regulation innerhalb der Matrix unterliegt auch übergeordneten Faktoren, etwa dem Psycho-Neuro-Endokrino-Immunologischen-System (PNEI) bzw. den Interaktionen von Fließsystem, ZNS, Biorhythmen sowie endokrinen Impulsen.

„Über die blind in der Matrix endenden vegetativen Nervenfasern erfolgt der Anschluss an das Zentralnervensystem; die Endstrombahn, die die Matrix durchsetzt, verbindet sie mit dem System der endokrinen Drüsen. Beide Systeme sind im Gehirnstamm miteinander verbunden und an übergeordneten Zentren des Gehirns angeschlossen. Auf diese Weise wird in der Matrix nicht nur vor Ort, sondern stets auch unter dem Einfluss übergeordneter Steuerungsgebiete geregelt.“ (2)

Homöostase, Adaptionsphase und Reaktionsstarre

Bindegewebe, Gewebsflüssigkeiten außerhalb der Zelle, Blut- und Lymphgefäße sowie vegetative Nervenfasern stellen in ihrem synergistischen Ordnungsprinzip einen Regulationsmechanismus zur Selbsterhaltung dar. Der Ausgleich von Ungleichgewichten wird in diesem Grundsystem vollzogen. Diese als Homöostase bezeichnete Fähigkeit hält das innere Milieu des Körpers in einer Konstanz mithilfe von unterschiedlichen Regelmechanismen. Es ist das Vermögen des Organismus, ein dynamisches Gleichgewicht aufrechtzuerhalten.

Eine oder mehrere minimale Dauerbelastungen können dieses Grundsystem belasten. Das können beispielsweise Zahnbeherdungen, chronische Geschehen im HNO-Bereich, Dauermedikationen oder eine nicht typusgerechte Ernährung sein. Diesen ungünstigen Bedingungen kann sich der Organismus nur bedingt anpassen, ohne dass erkennbare Krankheitszeichen auftreten. Diese Fähigkeit der Adaption dient der Aufrechterhaltung der körpereigenen Funktionen und kann über viele Jahre unerkannt ablaufen. Dies führt allerdings immer mehr zur Milieubelastung sowie zur pH-Wert-Verschiebung im Pischinger-Raum, sodass die Ver- und Entsorgung der Zelle verändert werden. Je nach individueller Belastung und Reizantwortfähigkeit kommt es zu erkennbaren pathologischen Prozessen und einer fortschreitenden Reaktionsstarre.

Verschlackung

Dieser aus der Ofentechnik übernommene Begriff stellt die langsam anwachsende Mülldeponie im Pischinger-Raum dar. Aufgrund der beschriebenen Vorgänge kommt es zu einer ständig steigenden Ablagerung und Verdichtung, die sowohl selbst pathologisch wirken als auch das System in seiner Reaktionsfähigkeit beeinflussen kann. Außerdem verschieben diese unterschiedlichen Interaktionen das Grundmilieu, unter anderem den pH-Wert. Daraus resultieren ganz andere, unphysiologische Bedingungen. Je nach Typus und fortgeschrittenem Verschlackungsgrad brechen die Regulationsmechanismen zusammen und es zeigen sich Symptome oder benennbare Indikationen. Diese Bandbreite der körperlichen Kompensationen befindet sich noch im Bereich der Dispositionsphase. Wird die Grenze zur Diathese überschritten, sind wir im ausgebrochenen Krankheitsbild. Die langsam anwachsende Mülldeponie wird auch als der „Reckeweg’sche Ascheneimer“ bezeichnet. Ist die Mülltonne voll, läuft sie über – der Vergiftungsvorgang ist nicht mehr im stummen Verlauf.

Noxenstopp und Entgiftung

Vorrangig ist der Noxenstopp. Welche Faktoren der Zufuhr haben besonders zu diesem Zustand geführt? Seine Ernährung, den Kontakt mit toxischen Stoffen oder psychisch Belastendes kann man weitgehend selbst beeinflussen. Eine Diätetik ist typgerecht möglich, Giftstoffe im Wohn- und Arbeitsbereich beeinflussbar und psychisch belastende Situationen ebenfalls angehbar. Letzteres wird unter anderem als Sozialhygiene bezeichnet.

Die Entgiftung ist mannigfaltig und die unterschiedlichen Möglichkeiten sind an dieser Stelle schon unzählige Male dargestellt worden. Der im Vorspann beschriebene Blutentzug, der Stoffwechsel-Aderlass nach biochronologischer Phase, befasst sich mit den Ablagerungen im Pischinger-Raum, welche prozentual am stärksten in der Zeit zwischen dem ersten und sechsten Tag nach Vollmond gelöst werden und in das Fließsystem übergehen. Nach dem beschriebenen Zeitraum baut der Körper die Stoffe wieder ein. Wird in dieser Phase ein Aderlass von maximal 200 Millilitern durchgeführt, kann man körpereigene Ablagerungen schrittweise ausleiten. Dieser Vorgang wird maximal zwei Mal im Jahr wiederholt. Es handelt sich hierbei um einen Phänomenvorgang, welcher bei Hildegard von Bingen beschrieben ist und von Praxen, die diesen Blutentzug praktizieren, unzählige Male bestätigt werden konnte.

Aderlass nach Hildegard von Bingen

„Sind bei einem Menschen die Gefäße mit Blut gefüllt, so müssen sie von dem schädlichen Schleim und dem durch die Verdauung gelieferten Saft durch einen Einschnitt gereinigt werden. […] Wie oben gesagt, besteht das Erste, was aus der Wunde und dem Einschnitt aus der Ader austritt, aus Blut, und mit ihm fließen verderbliche und alle krankmachenden Säfte gleichzeitig aus.“ (3)

Natürlich sind Hinweise aus dem Hochmittelalter nicht pauschal und blind zu übernehmen, auch wenn Hildegard von Bingen sie erwähnte. Aber das Ergebnis aus dem Erfassen dieser Grundgedanken und der daraus abgeleiteten praktischen Umsetzung ist mehr als diagnostisch und therapeutisch brauchbar.

Die Durchführung erfolgt wie bei jedem anderen Aderlass auch, der Patient ist nüchtern. Die schon beschriebene Blutmenge bezeichnet Hildegard mit „[…] so soll die Menge des gelassenen Blutes so viel betragen, wie ein kräftiger, durstiger Mann auf einen Zug Wasser trinken kann.“ (3) Ist der Aderlass die Entgiftung, stellen die nach 24 Stunden begutachteten Phänomene den diagnostischen Teil dar. Je nach optischer Ausbildung sind diese Zeichen interpretierbar (s. Abb. 1–3). Auch kann man sie mit schon erfolgten vorherigen Analysen vergleichen, um Veränderungen zu erkennen. Diese Bilder geben diagnostische Hinweise sowohl zur Disposition als auch zur Diathese. Ebenso zeigen sich akute und chronische Geschehen. Dabei sind parallel bestimmte Laborparameter ebenfalls richtungsweisend in ihren Aussagen.

Abb. 1: Weitgehend unauffälliges Beispiel einer Aderlass-Phänomen-Analyse – bis ⅓ Serumtrennung zum Blutkuchen, hellrotes Blut, wenig Einschlüsse Peter Germann
Abb. 2: Opakes Serum bei einer Aderlass-Phänomen-Analyse – Hinweis auf eine Lymphbelastung Peter Germann
Abb. 3: Speckkuchen bei einer Aderlass-Phänomen-Analyse – Hinweis auf Fettstoffwechselstörungen Peter Germann

Die Leisen-Therapie

Matthias Leisen (1879–1940) stellte seine Therapie der schlackenbedingten Erkrankungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor. Sein Augenmerk war nicht auf die Sekundärstoffe der Pflanzen gerichtet, sondern auf deren chemische Elemente. Das Gleiche unternahm er auch bei Gemüsen, Salaten und Gewürzen. Seine Theorie war, dass lebenswichtige Elemente in ihrer Verdichtung und Ablagerung als Schlacken den Organismus belasten. Führt man Pflanzen zu, welche die gleichen Verdichtungen als Spur an Bord haben, kann man die Schlacken nach und nach andocken und ausleiten. Dazu untersuchte er, welche Schlacken bei welchen Krankheiten in ihrer Verdichtung entstehen und welche Pflanzen sie als Spurenelement aufweisen. Diese werden dann praktisch nach isopathischem Prinzip als Tees verabreicht. Weist der Organismus einen Mangel an Spurenelementen auf, kann dieser phytotherapeutische Ansatz zur Substitution genutzt werden. Dies kombiniere ich in der Praxis mit den Schüßler-Salzen als Einschleusern.

Leisen stellte Tabellen zusammen, in denen die belastenden Hauptablagerungen nach Indikationen aufgelistet sind und stellte Pflanzen mit den passenden Spurenelementen dagegen. Nach dem Prinzip des Koordinatensystems kommt man schnell zu einem brauchbaren Ergebnis.

Ein Leisen-Beispiel

Lithium tritt in Verdichtung unter anderem beim rheumatischen Formenkreis auf. Als Spurenelement haben wir dieses Element in der Schafgarbe (Achillea millefolium). In diesem Fall würde ein Dekokt aus der Schafgarbe verabreicht werden, in der Regel mit anderen passenden Phytotherapeutika, welche ebenfalls in der Leisen-Auflistung aufgeführt sind.

Der Riegeltee ist eine Zusammenstellung von Pflanzen mit allen von Leisen aufgeführten Elementen. Er wirkt breitbandig, aber nicht gezielt. Der Riegeltee ist als Fertigmischung auf dem Markt.

Resümee

Das therapeutische Hauptaugenmerk sollte besonders in chronischen Fällen auf den Pischinger-Raum gerichtet sein. Hier laufen unzählige Stoffwechselfunktionen ab, die alle untereinander in Interaktion stehen. Gelingt es therapeutisch, dieses System zu regulieren, ist ein Großteil des naturheilkundlichen Erfolgs gesichert. Gleichzeitig werden damit auch die Selbstregulationsmechanismen des Organismus aktiviert, welche in Kombination mit den verordneten Therapeutika synergistisch wirken können. Ohne den Pischinger-Raum definieren zu können, zielten die Behandlungsansätze der Naturheilkunde immer schon auf diesen Bereich. Die Entgiftungs- und Ausleitungsansätze in Hildegard von Bingens Schriften beschreiben mit den Worten und dem Verständnis des Hochmittelalters genau dieses Grundregulationssystem. Diese wichtige bindegewebige Einheit ist von August Bier, Hans Heinrich Reckeweg und vor allem Alfred Pischinger im zwanzigsten Jahrhundert differenziert analysiert und definiert worden.

(Fotos: Peter Germann)

Literatur

  1. Dr. Adolf Thiele: Blutentziehungen. Naumann, Leipzig, 1896
  2. Heel GmbH (Hg.): Homotoxikologie – Grundlagen für die therapeutische Praxis
  3. Hildegard von Bingen: Ursachen und Behandlung von Krankheiten. Haug, Heidelberg, 1992
  4. PhytAro Heilpflanzenschule: Aderlass der Hildegard von Bingen – Entgiftungsmethoden