Virale Interferenz und die Coronapandemie

Neben dem Coronavirus SARS-CoV-2, das uns immer noch beschäftigt, nimmt nun auch wieder die Zahl der Erkältungs- und Grippeviren zu, die sich im Umlauf befinden. Das kann Einfluss auf den weiteren Verlauf der Coronapandemie haben, denn kozirkulierende Viren beeinflussen sich gegenseitig in der Verbreitung. Dieser als virale Interferenz bekannte Effekt kann sich hemmend oder verstärkend auf die Virenverbreitung auswirken. Mit Blick auf die bevorstehende Erkältungs- und Grippesaison beschäftigen sich Forscher zunehmend mit diesem Effekt.
Grippeviren verstärken wohl Ausbreitung von SARS-CoV-2
In Laborstudien wurde kürzlich nachgewiesen, dass Grippeviren die die Anfälligkeit für SARS-CoV-2 vergrößern, da Grippeviren die vermehrte Expression und Produktion von ACE2-Rezeptoren bewirken (1, 2). Das sind genau die Rezeptoren, die das Coronavirus benötigt, um an menschlichen Zellen anzudocken.
Ein mathematisches Modell von Forschern des Max-Planck-Instituts für Infektionsbiologie in Berlin und des Instituts Pasteur in Paris bestätigt die Befürchtung, dass die Grippewelle die Verbreitung des Coronavirus verstärken und somit die COVID-19-Fallzahlen erhöhen könnte (1). In ihrem Modell haben sie die ersten Monate der Pandemie in Europa untersucht, am Beispiel der unterschiedlich stark betroffenen Länder Belgien, Norwegen, Italien und Spanien. Neben Krankheitsparametern wie dem Generationsintervall wurden im Modell auch nicht-pharmazeutische Gegenmaßnahmen wie Ausgangssperren berücksichtigt. Sie konnten zeigen, dass die Abnahme der COVID-19-Fälle und SARS-CoV-2-Infektionen im Frühling nicht nur mit Gegenmaßnahmen, sondern auch mit dem Ende der Grippesaison zusammenhing. Denn den Berechnungen zufolge hat die Grippe die Übertragungsrate von SARS-CoV-2 in der Bevölkerung im Durchschnitt um das 2,5-Fache erhöht. Eine Überprüfung des Modells anhand der Statistiken der täglichen Todesfälle in den vier Ländern bestätigte, dass das Modell mit der Pandemie-Realität übereinstimmt.
Die Forscher halten eine Grippeimpfung in dieser Saison daher für doppelt ratsam: Um die Rate von Hospitalisierungen wegen schwerer Grippeverläufe niedrig zu halten und zugleich die Übertragungsrate des Coronavirus SARS-CoV-2 und damit die COVID-19-Fallzahlen zu senken.
Rhinoviren könnten Ausbreitung vermindern
Rhinoviren haben zumindest hinsichtlich Grippeviren einen antagonistischen Effekt der viralen Interferenz (1, 3). Einer Studie zufolge schützt ein Schnupfen etwa fünf Tage lang vor einer Grippevirusinfektion; Koinfektionen mit Rhino- und Grippeviren sind demnach selten (3). Mit Rhinoviren infizierte Zellkulturen ließen sich nach drei Tagen Inkubationszeit deutlich schlechter mit einer Variante des H1N1-Grippevirus infizieren. Die Last mit Influenzaviren war 24 und 48 Stunden nach der Infektion in den zuvor mit Rhinoviren infizierten Zellkulturen um mehr als 15-Fache niedriger als in Zellkulturen, die direkt mit dem Influenzavirus infiziert wurden. Die Forscher vermuten eine vermehrte Interferon-Freisetzung hinter diesem Effekt: Durch Hochfahren der antiviralen Verteidigung in den Atemwegszellen als Antwort auf die Rhinoviren wurde die nachfolgende Infektion mit anderen respiratorischen Viren unterdrückt. Eine Störwirkung zwischen Rhinoviren und SARS-CoV-2 wurde bisher zwar noch nicht untersucht, doch auch Coronavirusinfektionen werden durch Interferone gebremst. Und da Grippeviren die Übertragungsrate von SARS-CoV-2 offenbar erhöhen, könnten Rhinoviren die Coronavirusausbreitung zumindest indirekt vermindern, da Rhinoviren die Grippewelle abschwächen.
Insgesamt lassen sich hemmende Effekte beim Zusammenspiel von Viren häufiger beobachten als sich gegenseitig verstärkende. Daher werden auch Erreger anderer Atemwegserkrankungen und ihr möglicherweise antagonistischer Einfluss auf die Ausbreitung des Coronavirus untersucht (1). Dazu gehört beispielsweise das humane respiratorische Synzytial-Virus (HRSV oder RSV). Genau wie bei den Rhinoviren ist von RSV bekannt, dass es die Ausbreitung der Grippe hemmt. (jg)
Quellen
- Hohmann-Jeddi C: Schnupfen gegen COVID-19? Wie sich zirkulierende Viren gegenseitig beeinflussen. Pharmazeutische Zeitung, 17.09.2020. n.rpv.media/1qr
- Smith JC et al.: Cigarette Smoke Exposure and Inflammatory Signaling Increase the Expression of the SARS-CoV-2 Receptor ACE2 in the Respiratory Tract. Developmental Cell, 08.06.2020. DOI: 10.1016/j.devcel.2020.05.012
- Wu A et al.: Interference between rhinovirus and influenza A virus: a clinical data analysis and experimental infection study. The Lancet Microbe, 04.09.2020. DOI: 10.1016/S2666-5247(20)30114-2